Ziele, Prophezeiungen, Lösungen - die Zukunftsperspektive –
„Alle erfolgreichen Menschen, Männer und Frauen, sind große Träumer ...“ – Brian Tracy
Wirklich alle? Was ist mit Menschen, die reaktiv, pragmatisch oder spontan-situativ handeln? Mit denen, die „auf Sicht fahren“, Dinge aussitzen oder sich
"durchwursteln"? Auch das sind Lebensstrategien oder Metaprogramme, die nachweislich zum Erfolg führen können.
„Auch als Trittbrettfahrer kann man sehr weit kommen.“ (Bert Hellinger)
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ (Helmut Schmidt)
Und schließlich: Was ist mit Kulturen, die weniger ziel- und erfolgsorientiert sind – leben deren Menschen dort unglücklicher?
Wenig bekannt ist dass der Begriff "lösungsfokussiert" (solution focused) wohl von Steve de Shazer mit seiner Lösunsungsfokussierten Kurztherapie bekannt gemacht wurde.
De Shazer selbst hat später geäußert das er mit diesem Begriff nicht glücklich ist. Er gab an, er habe siene Methode eigentlich "zukunftsfokussiert" nennen wolllen,
aber der Begriff war schon in der Welt und verbreitete sich sehr schnell. Das passt zu de Shazer, denn er glaubte wohl nicht an die eine Lösung, sondern an viele Möglichkeiten.
Konstruktivistisch gesehen gibt es das eine "wahre" Ziel nicht und nicht "DIE Lösung."
Intensiv auf Ziele und Lösungen zu fokussieren, erzeugt den bekannten "Tunnelblick". Das ist einerseits gut, den es erhöht die Konzentation und richtet die Aufmerksamkeit
und die Dyanamik auf das Ziel- bzw Lösungsbild. Andererseits haben in diesem verengten Horizont Alternativen und andere, vielleicht noch bessere Möglichkeiten keinen Raum.
Die häufig gehörte Behauptung: "Es gab keine Alternative, ... das ist altrnativlos" ist eigentlich eher ein Armutszeugnis.
Ziele & Erfolg in der Zukunft
Die menschliche Wahrnehmungs- und Leistungsfähigkeit ist begrenzt. Wir können nicht gleichzeitig auf zwei Zeitebenen agieren – das wäre, metaphorisch: der Versuch, „mit einem A… auf zwei Pferden zu reiten“.
Ziele und Erfolge liegen in der Zukunft, nicht im Jetzt. Je stärker die Zukunftsfokussierung, desto weniger erleben wir den kostbaren Moment der Gegenwart. Und so kann man bedeutende Ereignisse im Hier-und-Jetzt übersehen, weil der Blick auf ein Zielbild fixiert ist.
Wir sehen Menschen, die große Ziele erreichen, aber Liebe, Partnerschaft oder Freundschaften verlieren – weil ihr Fokus zu weit vorne liegt.
Zukunftsziele sind Konstrukte. Perfekte Zielerreichungen sind unwahrscheinlich. Komplexe Systeme sind nicht vorhersagbar – selbst bei sorgfältiger Planung und „wohlformulierten“ Zielen.
Das Nervensystem bleibt jedoch im Jetzt – und erlebt alle Konstruktionen als gegenwärtige Aktivierungen.
Innehalten = Rückschritt?
Unsere westliche Lebensweise ist stark ziel- und zukunftsorientiert. Das nennen wir Fortschritt. Stillstand gilt als Rückschritt – ein weit verbreiteter Glaubenssatz.
Ziele folgen aufeinander. Der Erfolg von gestern ist schnell vergessen: „Wer seine Ziele erreicht, hat sie sich zu niedrig gesteckt.“ (Herbert von Karajan)
Das kann funktionieren – aber auch ein direkter Weg in Überlastung, Burnout und Eskalationsspiralen sein.
Ziele und Lösungen sind Möglichkeiten – und damit Prophezeiungen. Und es kommt noch dicker:
In komplexen Systemen gibt es Wechselwirkungen, keine linearen Ursache-Wirkung-Ketten. Narrative Ordnung entsteht erst nachträglich – zur Erklärung des Erlebten.
All diese Konstruktionen sind Wirkungen neuronaler Prozesse – die immer „jetzt“ stattfinden.
Self-fulfilling Prophecy – Wie mächtig sind Prophezeiungen?
Richtig: Prophezeiungen wirken. Glaube kann Berge versetzen. Wünsche werden wahr, zumindest manchmal!
Hier die Definition von Robert K. Merton (Wikipedia):
„Die selbst erfüllende Prophezeiung ist anfänglich eine falsche Bestimmung der Situation, die ein neues Verhalten verursacht, das bewirkt,
dass die ursprünglich falsche Auffassung richtig wird.“
Ein zirkulärer Prozess – ein System, das sich selbst beweist.
Weit weniger bekannt: Mertons zweite These, die erspäter aufstellte, hier definiert er die:
„Suizidale Prophezeiung“:
„Sie [...die Prophezeiung ] ändert das Verhalten so, dass sie sich nicht erfüllt. Die Prophezeiung zerstört sich selbst.“
Also gibt es für ihn die sowohl die (positivistische) sellbsterfüllende als auch die (skeptische) suizidale Prophezeiung!
Allerding vertieft Merton nicht welche der beiden Thesen in der Realität vorherrscht.
Aber über die suizidale Prophezeiung wird selten gesprochen, denn das könnte den Zauber des positiven Denkens ruinieren.
Persönliche Anmerkung & Resümee
Ich stelle die Bedeutung von Zielen und lösungsorientiertem Vorgehen im NLP keineswegs grundsätzlich infrage – ich lehre und nutze diese Ansätze seit über 20 Jahren.
Aber: Ich möchte ihre tatsächliche Wirkmächtigkeit nüchtern relativieren. Und zeigen, dass lösungs- und zielorientiertes Coaching nicht der einzige Weg ist – und in manchen Fällen sogar kontraindiziert sein kann.
Provokation würzt – sonst wäre der Text langweiliger, oder?
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Autor: Reinhard Kotter | verfasst: 22.01.2022 ♦ bearbeitet 10.04.24