NLP‑Coaching ohne explizit formulierte Ziele?

Bedeutung von Zielen, Nebenwirkungen & Alternativen


Autor: Reinhard Kotter | verfasst 29.09.19 ♦ bearbeitet 01.09.23 | Kommentare: 0

NLP‑Coaching ohne explizit formulierte Ziele?

In der westlichen Leistungsgesellschaft scheint es Konsens zu sein, dass ein nicht klar zielbestimmtes Leben geradezu scheitern muss. Das begründete Immanuel Kant so: „Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.“

Gekoppelt ist diese Zielfokussierung häufig mit Erwartungen von Fortschritt, Gewinn, Leistung, Erfolg, Wachstum etc. Gerade im NLP ist das besonders ausgeprägt und gipfelt im dogmatisch‑positiven Denken, dem „Alles ist machbar“.

Dabei geht es im Coaching öfter gar nicht primär um neue Ziele, sondern z. B. darum, dass ein Coachee etwas klären oder überprüfen möchte oder sich selbst besser zu verstehen wünscht. Der Blick auf den Ist‑Zustand ist definitiv kein SMART formuliertes Ziel. Ohne Zielformulierung besteht kein Auftrag, so lernte ich es in meiner Coach‑Ausbildung.




Die Bedeutung von Zielen im NLP‑Coaching

Coaching könnte man definieren als: zielorientierte Begleitung von Menschen in einem Veränderungsprozess (der i. d. R. zu einer konstruktiven Lösung führt). Schematisch sieht es im einfachsten Grundmuster so aus: Der Coachee definiert seinen Ist‑ und einen Sollzustand (Ziel). Aus dem Vergleich dieser Zustände ergibt sich in der Regel ein Defizit (Bedürfnis, Veränderungswunsch). Durch Hinzufügen und Testen geeigneter Ressourcen/Strategien soll das Ziel dann erreicht werden.

Richard Bandler, Mitbegründer des NLP‑Coachings

Oft werden im Coachingkontext Behauptungen publiziert wie: Ohne Ziel kein Auftrag / Ohne Ziele keine Motivation / Ohne Zielstrebigkeit kein Erfolg / Ein Weg ohne Ziel führt nirgendwo hin etc.

Ziele sind existenziell für das NLP‑Coaching, das belegen diese Zitate: „Wenn NLP je in einem 3‑Minuten‑Seminar vorgestellt werden müsste, ginge dies ungefähr folgendermaßen: Der Vortragende würde drei Sätze über NLP sagen und dann an die Tafel schreiben: Ziel – Sinnesschärfe – Flexibilität. Ende des Seminars!“ (sinngemäß aus: Neurolinguistisches Programmieren von Seymour & O’Connor, einem viel genutzten NLP‑Lehrbuch).
Und in NLPedia – der NLP‑Enzyklopädie – heißt es:

„NLP basiert auf 4 Grundprinzipien:

1.) der Zielorientierung 2.) der Wahrnehmung 3.) der Flexibilität und 4.) der Selbstverantwortung.“
Und weiter: „Im NLP sind Ziele grundlegend wichtig, da die Methode sich als zielorientiert versteht. Es geht um Ziele, Zukunft, Ergebnis, Lösung … im Gegensatz zu Problemen, Vergangenheit, Ursache, Grund/Begründung …“

Die Bedeutung von Zielen im NLP ist auch historisch begründet. In den 1970er‑Jahren war Psychotherapie vorwiegend problem‑ und vergangenheitsorientiert. Der Blick auf Ziele war deshalb neu und befreiend. Da ein zielorientiertes Vorgehen in Therapie und Beratung heute viel selbstverständlicher ist, lohnt sich ein Blick auf die Vor‑ und Nachteile einer Zielorientierung. Über die Nachteile dieser Ziel‑Priorisierung wird in den genannten Zitaten (und in vielen NLP‑Publikationen) allerdings wenig gesagt. Das möchte ich hier nachholen.

Das Neuro-Linguistische Programmieren wurde in den 1970er Jahren an der Universität Berley entwickelt - Gründer sind Richard Banler (Bild) und John Grinder u.a.



Ziel‑ und Erfolgsorientierung können zu Enttäuschungen führen

Bogenschützin zielt mit Pfeil, Bild pixabay

Ziele sind im konstruktivistischen Sinn Voraussagen, deren Erfüllung in einer Zukunft erwartet wird. Der Zeitpunkt der Zielerreichung kann, muss aber nicht, festgelegt sein. Ziele sind so gesehen auch Prognosen, und die sind – laut Systemtheorie – immer unzuverlässig, übrigens auch, wenn sie lehrbuchmäßig „wohlformuliert“ und überprüft sind.

Aus rationalistischer Sicht gilt Ähnliches, weil zu viele – oft unvorhersehbare – Faktoren und Prozessstörungen die Erfüllung verhindern können. Glaube, Hoffnung, positives Denken und Aufmerksamkeitsfokussierung haben sicher eine Wirkung auf den Zielerreichungsprozess, deren Quantität aber nie voraussagbar ist. Und so sind oft Enttäuschungen vorprogrammiert – im Wortsinn: Erwartungen sind häufig Selbsttäuschungen, und die Ent‑Täuschung ist das Sichtbarwerden der Realität. Wenn Erwartung und Realität kollidieren, erleben Menschen oft schlagartig und schmerzhaft ihre Wirklichkeit. „In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders“, sagte Helmut Kohl – das trifft es leider.

Selbstverständlich gehört zu fast jedem Coachingprozess die sorgfältige Formulierung von Zielen der Coachees. Aber wenn die Erwartungen sehr hoch gehängt werden, ist es seriös, schmerzhaften Enttäuschungen mit einem „Worst‑Case‑Check“ vorzubeugen.




Fokussierung auf ein Ziel blendet andere Chancen aus und kann Stress erzeugen

Die konsequente Fokussierung auf ein Ziel bewirkt, dass andere Möglichkeiten – sogar potenziell „bessere Chancen“, die sich jederzeit ergeben können – oft nicht wahrgenommen und somit nicht realisiert werden. Je stärker wir uns auf eine Sache konzentrieren, je mehr Aufmerksamkeit, Emotion, Energie und Zeit wir dorthin lenken, desto ausgeprägter wird der „Tunnelblick“, die Ausgrenzung anderer Themen.

In Ausnahmesituationen und dort, wo Höchstleistungen erbracht werden, kann dieser Effekt absolut erwünscht sein. Ansonsten engt der Tunnelblick Menschen jedoch oft ein. Sie übersehen nicht nur andere Chancen und Optionen, sondern häufig auch Empfindungen, Befindlichkeiten und nonverbale Mitteilungen ihrer Mitmenschen, Partner und Angehörigen; das kann die soziale Kompetenz einschränken und Kollateralschäden erzeugen. So können auch Flexibilität und Kreativität im Verhalten reduziert werden.

Ich biete hier eine provokante These an: „Ein Ziel ist eine mentale Konstruktion, die als Zielzustand definiert und in die Zukunft projiziert wird. Das so erzeugte Zielbild oder eine Vision kann nur wirksam sein, wenn es ständig neu erzeugt und mit positiven Erwartungen bzw. Belohnungen aktiviert wird.“

Neurobiologisch gesehen muss also der Dopaminspiegel ständig gepusht und die nötige Erregung in den zuständigen neuronalen Netzen induziert werden, um starke Motivationsempfindungen zu generieren. Das kann z. B. durch Autosuggestion, Affirmationen und positive Verstärkung/Feedback‑Schleifen und natürlich auch Muskeltraining erreicht werden. Das bedeutet aber auch einen gewissen Stress, der – wenn es bei Fernzielen lange dauert – vom Eustress zum Distress mutieren kann.




Ziele müssen immer höher gesteckt werden

Münzstapel – symbolisch für immer höhere Ziele, bild von asiromero, freepick

„Wer sein Ziel erreicht, hat es nicht hoch genug gesteckt.“ (Herbert von Karajan)

Beim Erreichen eines ambitionierten Ziels kommen oft Glücksgefühle auf. Diese halten bekanntlich meist nicht lange an. Manchmal folgt Ernüchterung oder ein Gefühl von Leere. So kann es sein, dass ein neues, noch höheres Ziel anvisiert wird. Dieses muss dann aber einen Mehrwert versprechen, um motivierend zu sein – und das kann sich fortsetzen. Das ist die Erfolgstreppe.

Das ähnelt einer Suchtentwicklung, die letztlich zu ständiger Unzufriedenheit, Überlastung, aber auch zu Gier und Leid führen kann.
Das lehren u. a. Buddhismus, Hinduismus und Taoismus; in letzterem gilt sogar: Der Weg ist das Ziel.

Konträr dazu erscheint unser westliches Konzept des „immer‑mehr‑haben‑Wollens“ und das Märchen vom ewigen Wachstum. Tatsächlich folgt jedes Wachstum einer Kurve, die nach dem Scheitelpunkt wieder abfällt.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin NLP‑Trainer und Coach und halte Wunschvorstellungen, Zielsetzungen, Visionen und Erfolgsstreben natürlich für zentrale, wichtige Elemente im Coaching. In diesem Post geht es nur darum, auch einmal die andere Seite der Medaille zu zeigen!


Fortsetzung in Teil 2: „Ziele in der Zukunft – Prophezeiungen“



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