Die Wirklichkeit erleben wir nur jetzt
"Nur das radikale Akzeptieren der Gegebenheiten in unserem Leben erlaubt uns eine Veränderung" M. Linehan
Über die Richtigkeit dieser Behauptung kann man streiten. Natürlich kann man immer versuchen,
an Stelle dessen, was jetzt geschieht, etwas ganz anderes zu initiieren, bzw. statt der einen Handlungsweise etwas anderes zu tun und das als Veränderung bezeichnen.
Oft geschieht das durch neue Zielsetzungen und dadurch kann die Lösung eines aktuellen Problems dann in der Zukunft erwartet werden.
Das wird dann positiv reframed als "zielgerichtetes Verhalten" und keinesfalls als Verschieben,
Verdrängen oder gar Versagen gewertet. Wer etwas nicht aushalten will und dann was Neues tut gilt meist als aktiv , aufgeschlossen und mutig, nicht als Vermeider.
Genau das geschieht häufig im zielorientierten Coaching.
Das wäre aber nicht eine Veränderung /Neugestaltung eines bestehenden Prozesses sondern der Beginn eines neuen Prozesses, ohne den alten abzuschließen und ich vermute,
dass Marsha Linehan das gemeint hat. Warum soll es denn so wichtig sein, Geschehen achtsam zu durchleben, aktiv anzunehmen oder laufende Prozesse auszuhalten
und zu würdigen und dann entweder anders weiterzuführen oder abzuschließen?
Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass das Großhirn unvollständige Muster, Strukturen und Prozesse möglichst vervollständigen bzw. abschließen, bewerten und
einordnen möchte.
Unabgeschlossene Prozesse können "im Hintergrund" also im Unbewussten auch über lange Zeit in Endlosschleifen weiterlaufen.
Manchmal erleben wir das auch bewusst und dann kann das quälend, zermürbend und schädlich für uns sein. Auf jeden Fall ist es ein Stress für das Gehirn.
Deshalb macht das Sprichwort: "Der einzige Weg hinaus ist der Weg hindurch" Sinn.
Das Abschließen von Prozessen und Aushalten von Problemen, durchleben von emotionalen Phasen steigert nachweislich unsere Resilienz. Und, abgeschlossene,
schwierige Erlebnisse sind Lernerfahrungen. Dadurch wird Selbstkompetenz entwickelt, werden Bewältigungsstrategien trainiert und das Selbstvertrauen gestärkt.
So kann es gelingen, selbst unsere leidvollen Erfahrungen in wertvolle Ressourcen zu transformieren.
Veränderungen haben oft
einen Preis, aber auch einen Gewinn und der Versuch, der Gegenwart zu entkommen und statt dessen verlockende Zukunftsziele zu konstruieren,
ist oft nicht der sinnvollste.
Achtsamkeit und Aufmerksamkeit
"Dort, wo die Aufmerksamkeit hingeht, geschieht etwas", sagt Albert Einstein. "Der Beobachter beeinflusst das Experiment", sagt die Quantenphysik und
"Beobachter wirken auf das betrachtete System", sagt die Systemtheorie". Das gilt natürlich auch für die Selbstbeobachtung. Achtsam wahrzunehmen ist also nicht nur
ein passiver Vorgang, sondern schafft einen Impuls, mit dem ein Veränderungsprozess beginnt! Und zwar jetzt, sofort und nicht erst beim Erreichen eines zukünftigen Ziels!
Die Neurobiologie postuliert, dass es für das Gehirn eigentlich nur Gegenwart gibt. Wir haben keine Erinnerungen fest abgespeichert, sondern konstruieren die vermeintliche
Vergangenheit ständig neu im Jetzt, genauso wie Zukunftserwartungen die auch nur Als-ob-Konstruktionen sind! Zukunftsziele haben unsere Zivilisation und Technologie
stark vorangebracht. Sie motivieren und fordern uns zu ständig mehr Leistung und ökonomischen Wachstum.
Der Nachteil dabei ist aber, dass Menschen nur einen sehr begrenten Aufmerksamkeitsfokus haben und wer sich stark auf das ausrichtet was (hoffentlich) kommt, kann nicht
gut wahrnehmen, was jetzt gerade genau passiert.Ein weiterer Nachteil ist, dass ein Zukunftsziele-Konzept zwangsläufig zum "immer-mehr-haben-wollen" führt und nicht zur
Zufriedenheit mit dem aktuellen Ist-Zustand. Damit kann sich diese Kultur selbst zertören.
Mit Achtsamkeit und feinsinniger Wahrnehmung können wir in unserem Innern und unserem Lebenssystem ein Reichtum an
Ideen, Kreativität und Möglichkeiten existiert, der unerschöpflich ist und uns eine sinnerfüllte Wirklichkeit schenken kann.
Toleranz und Akzeptanz
Im Gegensatz zur Toleranz, die eine passives Hinnehmen bedeute, ist Akzeptanz eine aktive, freiwillige Zustimmung, der ein Abwägungs- bzw. Beurteilungsprozess vorausgeht..
Akzeptanz ist somit vielleicht der etwas anspruchsvollere Weg als die bloße Toleranz oder das einfache Mitmachen von Trends und Entwicklungen im sozialen
und ökonomischen Kontext. Es bedeutet sich selbstverantwortlich zu entscheiden.
Veränderungsprozesse oder eine Neuorientierung aus einer Situation heraus, die zuvor genau betrachtet, bewertet und akzeptiert wurde,
hat eine andere Qualität als eine Entwicklung die einfach ein weg vom "Problem" hin zur vermeintlich besseren zukünftigen Lösung führt.
In systemischen Prozessen, vor allem auch bei der Aufstellungsarbeit, ist die Würdigung und Akzeptanz dessen was dort sich zeigt, der entscheidende
Teil der Lösungsarbeit.
Akzeptanz-orientiertes Coaching
Zwar werde ich hier keinen derartigen Coachingansatz vorstellen, da ich dafür auch noch kein fertiges Konzept kenne, aber ich werde ein paar Hinweise
geben, wie man man dabei vorgehen könnte.
Wenn das Coaching nicht primär zielorientiert sondern akzeptanzorientiert ist, wird das Risiko von Fehlentscheidungen minimiert. Denn hier geht es zunächst darum,
dass Klienten ihre Situation erst einmal sehr achtsam anschauen und sich auch auf das was Fakt ist wirklich einlassen, auch auf das zunächst unangenehm,
schmerzlich, beängstigend Erscheinende und es aushalten und würdigen - möglichst ohne Bewertungen, Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen .
Erst indem man das, was geschieht, so annimmt wie es ist, selbst wenn man es nicht verursacht hat, wird man wirklich frei. Und dann kann man klar
entscheiden, ob es annehmbar ist, wie es ist oder ob Veränderung sinnvoll, notwendig oder überhaupt möglich ist. Vielleicht reicht schon eine andere
leicht geänderte Betrachtungsweise, eine geringe Modifikation und das Zulassen anderer Empfindungen und schon erscheint alles anders
- ohne substanzielle Veränderung! Das wäre auch ökonomisches Coaching!
Die "Lösungsfokussierte Kurztherapie (LFK)bietet einige Techniken, die auch Basics für ein solches Coachingkonzept liefern können. In der LFK wird grundsätzlich
nicht aus Ursachen in der Vergangenheit geschaut,ebenso wenig wie auf fernere Zukunftsziele. Sie ist klar gegenwartsbezogen und testet Interventionen, wie sie
sich als Veränderungen des Ist-Zustandes auswirken. LFK ist eine Methode in der Achtsamkeit und Respekt fundamental sind und Ansichten und Mitteilungen von
Klienten akzeptiert und nicht kritisch hinterfragt werden. Lösungen werden erreicht durch Lernprozesse die durch den Vergleich von unterschiedlichen Verhaltensmustern
der Klienten erfolgen.
Akzeptanz in systemischen Aufstellungen
Beim Akzepttanzprozess nicht primär darum etwas Neues, Anderes zu erreichen, sondern die Veränderung und Lösung liegt in eingehenden Wahrnehmung
des Ist-Zustandes, der, dann letztendlich meist nicht mehr als Problem empfunden wird. Das Prozessergebnis muss dann auch nicht strikt positiv ausfallen,
es reicht oft auch ein neutrales: "Es ist, wie es ist" bzw. "Es ist ok so". Nicht als Ausdruck der Resignation, sondern als Bestätigung: Jetzt kann ich es
ohne Widerstand annehmen und als Lernerfahrung integrieren.
Dieses Akzeptanzformat finden wir auch in der klassischen Strukturaufstellung, ausführlich so beschrieben z.B. bei Hellinger oder Varga von Kibed und Sparrer.
Basis dieser Aufstellungsarbeit ist erstens: zu schauen was ist und zweitens: zu würdigen/akzeptieren wie es ist.
Darauf erfolgt häufig (muss aber nicht) als dritter Schritt das Ausprobieren von Strukturveränderungen, bis eine sogenannte Lösungsstruktur gefunden ist.
Das Würdigen und Annehmen dessen, was sich im Prozess zeigt, ist maßgeblich für dessen Gelingen. "Würdigen" meint hier auch nicht unbedingt eine per se positive Sicht.
Sondern es kann auch schlicht bedeuten, das überhaupt hingesehen werden kann, das andere Beziehungsmuster und Dynamiken erlaubt und möglich sind
und das Erstarrtes in Bewegung gerät.
Diese Elemente der Strukturarbeit sind nach meiner Auffassung, wesentlicher Bestandteil des Systemischen Coachings. Achtsamkeit und Akzeptanz
ist das Ergebnis eines subtilen Wahrnehmungsprozesses. Sie einander wechselseitig. Hierzu meine Definition:
"Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeits-Fokusierung. Das bedeutet im inneren Erleben geht es nicht nur um die präzise Wahrnehmung
der Submodalitäten (wie es im NLP-Wahrnehmungsmodell beschrieben wird) sondern hier spielt das Empfinden des 'Hier und Jetzt' und die nicht-wertende
Betrachtung (wie sie z.B. im Zen beschrieben wird) eine zentrale Rolle."
Natürlich hat Achtsamkeit in Coachingprozessen grundsätzlich in große Bedeutung (kalibrieren), unabhängig von der angewandten Methodik.
Aber hier geht es um eine spezifische Form des aufmerksamen Wahrnehmens, die nicht einfach erfolgt, sondern das Ergebnis einer präzisen Anleitung.
Aufmerksamkeit und Akzeptanz in der hypno-systemischen Methode
Die Fokussierung der Aufmerksamkeit ist auch das zentrale Element des hypno-systemischen Konzepte von Gunther Schmidt. Dabei wird davon ausgegangen,
dass Probleme durch selbst-hypnotische Fokussierungen beim Coachee entstehen und stabilisiert werden.
Diese "Problemerzeugung" wird dabei auch als Ergebnis von Kompetenzen gesehen, die dem Kienten bewusst gemacht werden. Auch hier geht es um die Würdigung
und Akzeptanz des erreichten Ist-Zustandes. Der Coachee soll seine eigene Steuerungskompetenz und seine, seine Selbst-Wirksamkeit erleben.
Dadurch wird eine Umfokussierung, weg vom Problem möglich, Neuronale Netzwerke werden aktiviert und mögliche
Lösungsmuster werden erkennbar. Letztlich wird die Problemtrance so zur Lösungstrance transformiert und der Klient erlebt seine eigene Steuerungs-
Kompetenz. In der Hypnosystemik ist der Fokus natürlich in der Gegenwart, da Vergangenheit und Zukunft lediglich als Hilfskonstruktionen gesehen werden,
die der narrativen Identitätsentwicklung dienen. Auch bei dieser Methodik geht es vornehmlich um Achtsamkeit / Aufmerksamkeit, Selbst-Akzeptanz
und das Erleben der Selbstwirksamkeit. Dadurch werden Lösungsmöglichkeiten "eingeladen", wie Schmidt sagt.
ACT – die Akzeptanz- und Commitmenttherapie
Die Verbindung von achtsamer Beobachtung und Akzeptanz von Leid erzeugenden Motiven ist zentraler Teil der Methode in der Akzeptanz- und
Commitment-Therapie (ACT), die zu den Achtsamkeits-basierten Methoden der Verhaltenstherapie gehört. ACT ist ein handlungsorientierter Psychotherapie
-Ansatz, der in den letzten Jahren vor allem in Amerika und Australien entwickelt wurde. Er kann als Brücke zwischen der Systemischen Therapie und
der Verhaltenstherapie verstanden werden. Die Schwerpunkte dieses Ansatzes, der auf Achtsamkeitspraxis basiert, sind die Arbeit mit Akzeptanz und
Werten sowie die konkrete Umsetzung dieser Themen durch eigenes Handeln.
ACT regt dazu an, den Umgang mit Leiden neu zu erleben, verbunden mit Anerkennung, Akzeptanz und dem Vorhaben, sich vom Leiden nicht davon
abhalten zu lassen, das Leben zu leben, das ich leben möchte.***
Kritik des ACT-Konzepts
Das Konzept dieser Therapieform ist für mich nicht ganz stimmig, einerseits basiert ACT auf der Verhaltenstherapie mit ihren Wurzeln im Behaviorismus
und Verhaltensanalyse und andererseits arbeitet man mit Meditationstechniken und Hypnotherapie, einerseits traditionell problem- und defizitorientiert
und dann wieder mit den moderneren lösungsorientierten Techniken und gebraucht dabei wiederum (für mich seltsame) Kategorien wie "sauberes" und "schmutziges" Leid.
Dennoch finde ich, dass man mit einigen ACT-Techniken das systemische Coaching ergänzen und bereichern kann. , zumal diese Techniken ja teilweise
der Hypnotherapie entlehnt und somi aucht NLP-kompatibel sind. Letzten Endes geht es bei diesen Ansätzen ja auch nur um die Umfokussierung der Aufmerksamkeit
und die Auflösung der Verankerung von negativ wirkenden Repräsentationen. In der ACT nennt man diese Verankerung "Kognitive Fusion" und die Auflösung "Defusion".
im Zustand der Fusion sind wir mit schwierigen Gedanken und Gefühlen verhakt (hooked") und unfrei durch Defusion lösen wir uns aus der Verhakung
(unhooked") und werden frei, das zu tun, was uns wirklich wichtig ist. Dabei werden viele unterschiedliche Fusionsarten genannt,
Stets geht es darum, ungünstige Identifikationen zu lösen, negativen Mustern keine Macht über unser Leben zu geben. Der Leitsatz dazu lautet:
"Denken Sie immer daran: Sie sind nicht Ihre Gedanken und Gefühle, sondern Sie haben sie!- Manche dieser Gedanken sind nützlich,
sehr viele jedoch ganz und gar nicht" ***
Am Ende des ACT-Prozesses steht eine Zielorientierung die mit der NLP-Zielentwicklung vergleichbar ist und ebenfalls auf den SMART-Kriterien beruht.
Wichtigster Punkt dabei ist das Committment, die Selbst-Verpflichtung, sich an den eigenen Werten zu orientieren, und innere Vereinbarungen und
definierten Ziele einzuhalten. Das kennen wir in ähnlicher Form natürlich ebenfalls im NLP.
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie gilt zwar einerseits als erfolgreiche Methode, ist aber nicht unumstritten weil sie angeblich unwissenschaftliche
Elemente die nicht verifizierbar und reproduzierbar sind, enthält. Schön, dass diese Schmähung nicht nur das NLP trifft. Dabei sind gerade diese
kritisierten Elemente, nämlich achtsames Wahrnehmen, Hier - und Jetzt-Trance, Verankerungen lösen, Umfokusieren etc. vermutlich mit die wirksamsten, die es gibt!
Gerade sie machen ACT, NLP, LFK und ähnlich Methoden so erfolgreich. Wie ärgerlich für die Kritiker!
Fazit:
Meine Vorstellungen zum Akzeptanz-orientierten Coaching sollen nicht als etwas methodisch anderes und auch nicht als Infragestellung gängiger Konzepte
gesehen werden. Sie sind nicht mehr als ein Angebot und Plädoyer, gewohnte und bewährte Verfahren zu ergänzen.
Damit meine ich, dass vor einer Zielsetzung und Neuausrichtung im Coachingprozess vielleicht öfter der Coachee ermuntert wird, seine aktuelle Situation,
seinen erreichte Ist-Zustand achtsam zu beobachten und zu würdigen, negative Bewertungen zu dissoziieren und zu akzeptieren, was jetzt gerade ist.
Denn genau hier erleben wie doch oft eine Unzufriedenheit, ein Hadern und eine Selbstabwertung der Klienten. Und dann kommt oft (zu schnell) der Wunsch
nach Veränderung, neuen Zielen, dem vermeintlich Besseren, den Höchstleistungen auf.
Und, das ist meine Wahrnehmung, viele Coachs folgen diesen Wünschen allzu gerne. Dem Innehalten, Besinnen, der Selbstwürdigung des bisher Erreichten
wird da manchmal kaum Raum und Zeit gegeben.
Meine 20jährige Erfahrung als Coach und systemischer Aufsteller zeigt mir immer wieder, wie wichtig dieser Schritt ist. Denn er löst Belastungen und Leid,
macht stolz auf die eigene bisherige Lebensleistung, stiftet inneren Frieden und schafft Freiraum für neue Möglichkeiten.
Dieser Zwischenschritt ist keine Zeitverschwendung, im Gegenteil! Nach der Akzeptanz erfolgen die nächsten Veränderungsschritte oft besonders zügig,
zeigen sich Freude, Mut, Klarheit, Kreativität und Motivation. Schön auch für den Coach.
***https://www.eurasiamed.de/psychosomatik/act-acceptance-commitment-therapy/defusion